FU Berlin
Alle Fotos: Rozilda Drude

 

Entschlüsselung einer unbekannten Indianersprache

Ein Projekt zur Dokumentation der bedrohten brasilianischen Indianersprache Awetí

Sebastian Drude

Die Awetí sind ein kleiner Indianerstamm in Zentralbrasilien, der bislang nur wenig Kontakt mit Weißen hatte. Im Zuge eines Programms der Volkswagenstiftung zur Dokumentation bedrohter Sprachen wird unser Autor die Awetí erneut besuchen und berichtet als „jüngerer Bruder des Häuptlings“ über seine Bemühungen, die Sprache der Awetí für künftige Generationen festzuhalten.

„[...] der Fluß zog sich in fürchterlichen Wendungen dahin, und wir hatten den ganzen Tag über, man möchte sagen, im Kreis zu rudern. [...] Am 16. Oktober [1887] wurden wir, nachdem wir um 7 Uhr aufgebrochen waren, zur Mittagsstunde von dem linken Ufer angerufen: »katú, Auetö, katú katú« ! erschallte in gutem Tupí. »Die Auetö sind gut« ! Eine kleine Anzahl meist über und über mit Ruß bedeckterr Indianer erwartete uns am Hafen: die Kunde von unserem Erscheinen [...] war bereits zu ihnen gedrungen [...]. Wir landeten und versprachen, am Nachmittag im Dorf zu erscheinen, wenn die anderen Kanus eingetroffen waren.“

Diese Passagen, die von dem ersten registrierten Besuch von Weißen bei den Awetí berichten, stammen aus einem Bestseller des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Ihr Autor, der deutsche Arzt und Anthropologe Karl von den Steinen, berichtete als Erster über die bis dahin in der Welt der Weißen völlig unbekannte Region der Quellflüsse des Xingú, eines der großen südlichen Zuflüsse des Amazonas. Man war hier auf ein einzigartiges Kulturareal gestoßen. Ein gutes Dutzend verschiedener Stämme lebt hier in einer gemeinsamen Kultur zusammen: Sie wohnen in identischen Häusern und Dörfern, feiern dieselben Feste, besitzen dieselben Mythen und heiraten untereinander. Zumindest in einem Punkt aber bewahrt jede Gruppe ihre Identität: Sie sprechen ganz verschiedene Sprachen. Es ist, als hätte sich ein Querschnitt der brasilianischen Indianer in einem kleinen Areal versammelt.

Man vermutet, dass aruaksprachige Gruppen um 1000 nach Christus als erste in der Gegend heimisch geworden sind. Die karibsprachigen Stämme sind offenbar um 1700 dazugekommen, und im 18. und 19. Jahrhundert, vielleicht bereits unter dem (indirekten) Druck der Weißen, tupísprachige Gruppen, darunter die Ahnen der heutigen Awetí. Zuletzt kamen die Trumai, die eine Sprache ohne nähere Verwandte sprechen. Sie waren noch nicht vollständig integriert, als die erste Expedition die Region erkundete.



Der Autor (l.) im Gespräch mit seinem "Vater"


Obwohl noch weitere deutsche Expeditionen folgten (die erste 1887 erneut unter der Leitung von Karl von den Steinen), wurde es in Deutschland still um das Xingú-Quellgebiet und seine Bewohner. Von den Steinens Reiseberichte mögen antiquiert erscheinen wie die Fiktionen eines Karl Mays. Tatsächlich sind seine Forschungen hochaktuell, unter anderem, weil sie als grundlegende Beiträge zur anspruchsvollen und lebendigen brasilianischen Ethnologie gelten dürfen. In diesem Jahr knüpfen drei wissenschaftliche Expeditionen ins Xingú-Gebiet an Karl von den Steinen und seine Nachfolger an. Eine dieser Forschungsreisen wird vom Autor von Mai bis Juli zu den Awetí unternommen.

Hintergrund für die deutsch-brasilianische Kooperation ist ein Programm der Volkswagenstiftung zur Dokumentation bedrohter Sprachen (DOBES). Dass ein solches Programm an der Schwelle zum 21. Jahrhundert ins Leben gerufen wurde, ist kein Zufall. Denn dieses Jahrhundert wird von einem drastischen Verschwinden der Vielfalt auf diesem Planeten gekennzeichnet sein. In einigen Bereichen, wie der Flora und Fauna, ist dies schon lange Gegenstand der Sorge; ähnliches gilt für die Aufgabe von Lebens- und Wirtschaftsformen lokaler Gesellschaften.

Anders jedoch bei dem nicht weniger dramatischen weltweiten Sprachensterben, das selbst unter Linguisten bis vor wenigen Jahren kaum thematisiert wurde. Im 21. Jahrhundert sind bis zu 90 Prozent der zur Zeit noch gesprochenen gut 6.000 Sprachen bedroht. Durchschnittlich stirbt mindestens alle zwei Monate eine Sprache.

„Sprachensterben“ bezeichnet typischerweise einen Prozess, in dessen Verlauf eine Sprachgemeinschaft ihre eigene Sprache zugunsten einer anderen aufgibt. Auch wenn über den Prozess wenig bekannt ist, lässt sich einiges generalisierend festhalten. Üblicherweise besitzt die bedrohte Sprache regional ein niedriges Prestige oder ist sogar stigmatisiert. Bei einem sich verändernden kulturellen Umfeld bleibt ihr Gebrauch dann auf den familiären Bereich beschränkt, bis sie schließlich nicht mehr an die Kinder als erste Muttersprache weitergegeben wird. Das Ende einer solchen moribunden Sprache tritt ein, wenn sie auch von den Älteren nicht mehr gebraucht wird, spätestens aber, wenn der letzte Sprecher stirbt.



Landkarte Alto Xingú


Weltweit befinden sich Dutzende von Sprachen in den letzten Stadien dieses Prozesses, insbesondere in Australien, den USA und im Tiefland von Südamerika. Als kritische Grenze wird oft eine Anzahl von 100.000 Sprechern genannt – jedoch ist diese statistische Herangehensweise mit größter Vorsicht zu genießen. Entscheidend ist die Einstellung der Sprecher zu ihrer Sprache. Die Sprachgemeinschaft kann der Stigmatisierung widerstehen oder nicht – im Extremfall kann dies bedeuten, dass eine Sprache auch dann aufgegeben wird, wenn ihre Sprecher noch Millionen zählen, wie dies etwa für manche Sprache in China oder Indien zutreffen mag. Spracherhaltende Maßnahmen wie Schulunterricht (in) der Sprache, Bücher oder Radioprogramme sind meist zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht gleichzeitig zu einem Prestigegewinn der Sprache beitragen.

Umgekehrt kann sich eine Sprache auch dann intakt halten, wenn sie viel geringere Sprecherzahlen aufweist. Das vom Autor untersuchte Awetí ist in dieser Hinsicht rekordverdächtig: Nach offiziellen Zählungen lebten Mitte der fünfziger Jahre nur mehr zwei Dutzend Menschen im Dorf der Awetí, nachdem sie durch europäische Krankheiten dezimiert wurden, die ihnen vorher unbekannt waren. Obwohl es auch heute nur knapp über einhundert Personen sind, ist die Awetí-Sprache zwar sicherlich bedroht, aber derzeit noch durchaus vital, da sie die Muttersprache fast aller im Dorf aufwachsender Kinder ist.

Ähnliches gilt leider nicht für alle der knapp 180 noch in Brasilien gesprochenen indianischen Sprachen, die sich auf insgesamt nur rund 200.000 Sprecher verteilen. Geht man von den 600 Sprachen aus, von denen man annimmt, dass sie um 1500 im Gebiet des heutigen Brasiliens gesprochen wurden, unterscheidet sich die Sprachendichte des kontinentgroßen Landes nicht wesentlich von vergleichbaren südostasiatischen oder zentralafrikanischen Staaten, jedoch sind die Sprecherzahlen in Amazonien viel geringer.

Zunehmend begreift man sprachliche Vielfalt als einen Reichtum, aber diese Erkenntnis allein wird die Mehrzahl der bedrohten Sprachen und Kulturen leider nicht bewahren können. Der Verlust wird meist am schmerzlichsten von letzten Sprechern und ihren Nachfahren empfunden, denen ein wichtiges Identifikationsmoment und Vehikel zur Vermittlung ihrer Kultur fehlt. Denn jede Sprache stellt ihr ganz eigenes Mittel zur Strukturierung der Gedanken, Gefühle und Wahrnehmung der Welt zur Verfügung. Jede Kultur formuliert in ihrer Sprache andere Antworten auf die dringenden Fragen, die sich dem Menschen beim Umgang mit seinesgleichen und seiner Umwelt stellen.

Den eigenen Traditionen auf der Spur, begeben sich zunehmend Nachkommen indigener Völker auf die Suche nach alten Aufzeichnungen und Aufnahmen – in den allermeisten Fällen vergeblich. Nur selten reicht das vorgefundene Material zur Wiederbelebung einer bereits ausgestorbenen Sprache aus, wie im spektakulären Fall des „Manx“, der keltischen Sprache der Isle of Man, deren letzte Sprecher zwar in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts starben, welches aber in jüngster Zeit wieder erlernt wird und sogar die Muttersprache einiger Kinder ist.



Drei Freundinnen und Frauen die einem Ringkampf zuschauen


Zur Stärkung oder Revitalisierung einer Sprache benötigt man in erster Linie Anschauungsmaterial, das zeigt, wie sie in den unterschiedlichsten Kommunikationssituationen des Alltags eingesetzt wurde. Alphabetisierung und Vermittlung von Wissen (der eigenen wie anderer Kulturen) in der Muttersprache kann hierzu ein fundamentaler Schritt sein. Gute Dokumentationen sind dabei eine wichtige Hilfe. Die indigenen Völker erkennen dies selbst: Vielerorts ergreifen sie ihrerseits die Initiative und halten mit Videokameras, Tonbandgeräten und notfalls mit Papier und Bleistift Aspekte ihrer Kultur und Sprache fest.

Auch aus rein wissenschaftlicher Sicht gibt es gute Gründe für Sprachdokumentationen, die unter anderem Grundlage für profunde Sprachbeschreibungen in Form einer Grammatik oder eines Wörterbuchs sein können. Die Analyse eines fremden Sprachsystems ist ein stimulierender Prüfstein für jede umfassende Theorie der menschlichen Sprache. Aus ähnlichen Gründen interessieren sich auch Sprachuniversalienforscher und Typologen für gut zugängliche Sprachdokumentationen. Schließlich kommt auch den Nachbardisziplinen eine geeignet angelegte Dokumentation zugute. Durch Vergleiche mit nahegelegenen und verwandten Sprachen ergeben sich wertvolle Hinweise auf die Vorgeschichte der Sprechergemeinschaften, insbesondere auf frühe Kontakte zwischen ihnen, auf ihre Herkunft und Wanderungen. Die systematische Betrachtung umfangreicher Wortlisten verschiedener Sprachen liefert Indizien, die dann mit den Ergebnissen der Historiker, Archäologen und neuerdings auch der Genetiker verglichen werden können. Besonders aber werden Ethnologen an den Inhalten der dokumentierten Texte Interesse haben, ob es sich nun um Mythen, orale Geschichtsüberlieferungen oder Erläuterungen zur eigenen Kultur handelt.

Das von der Volkswagenstiftung ins Leben gerufene multidisziplinäre Projekt betritt hier weitgehend – auch international – wissenschaftliches Neuland. Besonders die gegenwärtige einjährige Pilotphase des auf fünf Jahre angelegten Programms soll helfen, grundlegende theoretische und methodische Fragen zu klären. Prof. Dr. Hans-Heinrich Lieb und der Autor, die das Awetí-Projekt am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der FU durchführen, arbeiten auch hierbei intensiv mit. Insgesamt stehen acht Projekte in regem Austausch miteinander. Sie wurden so gewählt, dass sie ein möglichst breites Spektrum unterschiedlicher Rahmenbedingungen repräsentieren. Dies soll eine übertragbare Allgemeinheit der Antworten auf die Frage nach dem Vorgehen bei der Dokumentation gewährleisten.

Ein wesentlicher Aspekt ergibt sich aus den technischen Möglichkeiten. Wichtigstes Ziel ist der Aufbau eines großen digitalen Archivs aus Multimediadaten, linguistischen und kulturellen Erläuterungen und lexikalischen Datenbanken, die sinnvoll miteinander verknüpft und über eine feingliedrige Verschlagwortung leicht zugänglich gemacht sind. Durch Kooperation mit den wenigen ersten anderen verwandten Initiativen weltweit wird ein einheitlicher Standard für Sprachdokumentationen angestrebt.

Es scheint paradox und zugleich folgerichtig, dass eben jenes Zeitalter, das durch den beispiellosen Verlust von Vielfalt gekennzeichnet ist, sich mit ungeheurem Aufwand um die Katalogisierung unseres Wissens über diese Vielfalt bemüht. DOBES steht genau im Brennpunkt dieser Widersprüche: Moderne Technologie trifft auf traditionelle, zum Teil archaisch anmutende Lebensweisen, die global vernetzte Welt auf den Mikrokosmos teilweise recht isoliert lebender Gruppen.

Dies bringt komplexe Fragestellungen, auch rechtlicher und ethischer Art, mit sich, mit denen seit jeher in erster Linie der Mittler zwischen den Welten, der Feldforscher, konfrontiert ist. Eine persönlichere Schilderung meiner Arbeit bei den Awetí mag das bisher Ausgeführte veranschaulichen.

Mein erster Kontakt mit den Awetí ergab sich 1998, über 110 Jahre nach dem ersten Besuch von Karl von den Steinen. Ich war mit einem DAAD-Stipendium Gastforscher am Museu Goeldi in Belém und auf der Suche nach einer Gruppe, über deren Sprache ich arbeiten könnte. Die Awetí erfuhren von mir über eine befreundete Ethnologin, und da sie ihrerseits gerade auf der Suche nach einem Linguisten waren, rief mich der Häuptling bei seiner nächsten Reise nach Brasilia an. Wie viele indianische Gruppen in Brasilien, darunter die meisten des Xingúgebietes, bemühen sich die Awetí darum, im Dorf eine indianische Schule mit zweisprachigem Unterricht einzurichten, anstatt ihre Kinder für Jahre in die Städte zu verschicken. Sie sehen zwar die Notwendigkeit, dass die Kinder zumindest lesen, schreiben, rechnen und Portugiesisch lernen, fürchten aber zu Recht, dass sie in den Schulen der Weißen diskriminiert und ihrer eigenen Kultur entfremdet werden. Der Vorteil der Alphabetisierung in der Muttersprache leuchtet den meisten ein – aber dazu braucht man eine solide Orthographie.

Die Awetí und ich wurden uns schnell einig: Ich würde mich an der Ausbildung der Awetí-Lehrer beteiligen, an der Erstellung von Lehrmaterial mitwirken und bei der Dokumentation der Sprache und Kultur tätig werden; im Gegenzug wäre ich immer wieder ihr Gast und hätte ihre Unterstützung, die Sprache zu lernen und zu erforschen. Heutzutage ist in Brasilien eine derartige Verknüpfung von ethnologischer und linguistischer Forschung mit pädagogischen Projekten der Regelfall. Die meisten indianischen Völker sind sich ihrer Lage genau bewusst, sie sehen die Gefahr, dass ihr altes Wissen vergessen wird, wenn es niemand festhält. Und sie fordern Beziehungen zu Weißen ein, die auf Gegenseitigkeit und Respekt beruhen.



Geschichte der Kontakte der Awetí und des Xingú-Quellgebiets mit der Welt der Weißen

1884 Erste Expedition unter Karl von den Steinen durch das Xingú-Quellgebiet

1887 Zweite Expedition Karl von den Steinens und Paul Ehrenreichs, erster Besuch bei den Awetí

1896, 1898, 1901, 1926, 1983 Weitere deutsche Xingú-Expeditionen, z.T. auch zu den Awetí

1900–1950 Sporadische Kontakte der Xinguanos mit Weißen, vereinzelte brasilianische Expeditionen Dramatischer Bevölkerungsrückgang durch Krankheiten (die Awetí zählen 1954 nur 23 Individuen, heute: ca. 110)

1943–1961 Staatliche Politik zur Erschließung des Gebiets; in den 50ern Initiative zur Schaffung eines Reservates insbesondere von Seiten der Brüder Villas-Boas; 1961 Dekret zur Schaffung des Parque Indígena do Xingú

1968–1975 Wiederholte Aufenthalte der Linguistin Ruth Monserrat bei den Awetí, 1971 auch des Anthropologen Jorge Zarur

1994 Beginn des Ausbildungsprogramms für indianische Lehrer

1998, 1999, 2001 Aufenthalte von Sebastian Drude bei den Awetí (2001 geplant, im Rahmen von DOBES)


So reiste ich 1998 zum ersten Mal zu den am traditionellen Ort lebenden Awetí und blieb dort fast vier Monate. Ich bemühte mich, ihre Sprache zu begreifen, füllte Hefte mit Wörtern und kleinen Sätzen und bespielte Kassetten mit sprachlichem Material, die ich mit Hilfe von Sprechern („Informanten“) transkribierte, übersetze und analysierte. Höhepunkt meines ersten Aufenthaltes war das Kuarupfest, zu dem die Awetí fünf Nachbarstämme einluden und das ich in einem Videofilm dokumentieren konnte. Zum Abschluss nahm ich als Ausbilder an einem der Kurse für indianische Lehrer teil; der Organisator, das Instituto Sócio-Ambiental, eine indigenistische „NGO“, engagierte mich als Verantwortlichen für die Awetí. Die Arbeit an der Orthographie ist mittlerweile weitgehend abgeschlossen, eine erste Fibel in Awetí wird voraussichtlich noch in diesem Jahr erscheinen.

Gemessen an den ethischen, inhaltlichen und methodischen Herausforderungen treten die physischen Strapazen bei einer Feldforschung in den Hintergrund, nicht zuletzt wegen der besseren Infrastruktur. Dauerte die Anreise Karl von den Steinens in das Xingúgebiet noch Wochen, so steht den Awetí heute ein Motorboot zur Verfügung, das die Flussreise von mehreren Tagen auf acht Stunden verkürzt. Vor Ort arbeite ich mit Kassettenrecorder, Videokamera und Laptop, die ich mit Solarenergie betreibe. Auch weniger drastische Änderungen bedeuten einen gewissen Komfort: Ich schlafe in einem Schlafsack in meiner Hängematte aus Tuch, wohingegen die Awetí in grobmaschig geknüpften Hängematten nachts nur kleine Feuer zum Schutz vor der Kälte haben.

Neben der eigenen Ausrüstung benötige ich die begehrten Mitbringsel oder Tauschgegenstände. Wie zu Karl von den Steinens Zeiten sind dies Messer, Scheren, Angelhaken, Munition, Eisenwerkzeuge, Stoff, aber auch Medikamente und Batterien für Taschenlampen und Walkmen, die längst Einzug in das Dorf gehalten haben. Die Aufnahme neuer Elemente in die lokale Kultur ist eine unvermeidliche Folge des Kontakts. 1998 kauften die Awetí von Geldern für Filmaufnahmen Fahrräder, die im meist ebenen Gebiet nützlich sind. Die Neuerungen verursachen aber auch neue Probleme und Abhängigkeiten, die nach engagierten Maßnamen verlangen. Bei meiner Rückkehr 1999 brachte ich beispielsweise mit Spenden des Lionsclubs für jedes Haus eine Solarlampe mit. Sie reduzieren den Verbrauch von Einwegbatterien erheblich und werden nun im ganzen Xingúgebiet begehrt.





Kulturaustausch ist keine Einbahnstraße: So tausche ich meine Lebensmittelvorräte gerne gegen die Teilnahme an Mahlzeiten der Awetí, hauptsächlich Fisch, gegrillt oder gekocht, kaum Wild und Maniok, in Form von Brotfladen und Brei. Wer kulinarischen Experimenten nicht abgeneigt ist, dem werden festtags auch exotische Früchte, Schildkröteneier, Affenfleisch oder große lebende Ameisen angeboten. Allgemein braucht die Pflege der Kontakte und die Teilnahme am Dorfalltag viel Zeit. Einige Stunden täglich arbeite ich mit „Informanten“, erfrage sprachliche Formen oder erhalte Hilfe bei der Transkribierung und Übersetzung von aufgenommenen Texten. Den Rest der Zeit habe ich damit zu tun, die Form des Zusammenlebens mit der Umwelt und die zugrundeliegenden Regeln des Lebens der Gesellschaft zu verstehen. Da sind zum Beispiel die oft komplexe politische Organisation und die verborgenen Fraktionierungen in der Gruppe, die es alle zu respektieren gilt. Auch gibt es Anlässe wie das oben erwähnte Kuarupfest, zu denen mir wochenlang kaum ein „Informant“ zur Verfügung steht, weil alle mit den Vorbereitungen beschäftigt sind.

Einen Moment der Konzentration, des Überdenkens, Verstehens und Planens bietet die Nacht. Nun gehe ich die Daten durch oder schreibe Tagebuch. Ebenso sind dies die besten Momente für Tonbandaufnahmen. Nachts ist es still, die Vögel, auch die Dorfhühner, schweigen, nur vereinzelt weint ein Säugling oder bellt ein Hund. Die Awetí schlafen wie viele traditionelle Völker bald nach Sonnenuntergang – wenn nicht ein spannendes Fußballspiel übertragen wird, dann versammelt sich insbesondere die Dorfjugend vor dem einzigen Fernseher, der mit einem Dieselgenerator betrieben wird, im riesigen Haus des Häuptlings. Dort hatte auch ich, wie alle weißen Besucher, einen Pfosten zur Verfügung gestellt bekommen, von dem aus zur Wand ich meine Hängematte spannen konnte. Mittlerweile haben die Awetí eigens ein Gästehaus gebaut, das in erster Linie von mir genutzt wird.







Im Gegenzug versuche ich, die in mich gesetzten – auch materiellen – Hoffnungen zu erfüllen, soweit es mir sinnvoll und möglich erscheint. So sandte ich im Jahr 2000 (wieder mithilfe des Lionsclubs) den Awetí Ersatz für ihr zerstörtes Funkgerät. Gelingt es, ein auf Gegenseitigkeit beruhendes Verhältnis mit der Gemeinschaft herzustellen, so kann man in Grenzen in diese integriert werden. Ein beglückender Moment war es, als ich in das komplexe Geflecht der Verwandtschaftsbeziehungen aufgenommen wurde, die die soziale Struktur des Dorfes weitgehend organisieren. Von einem gewissen Zeitpunkt an hat mich der Vater des gegenwärtigen Häuptlings als seinen Sohn angeredet, so dass mich seither viele mit „Vetter“ oder „Schwager“ anreden, geradeso, als wäre ich der jüngere Bruder des Häuptlings. „Unser“ Vater ist übrigens ein hervorragender Kenner der Überlieferungen und Mythen und damit ein wichtiger „Informant“, sowie ein bedeutender Schamane.

Dieses Jahr fahre ich voraussichtlich für drei Monate zu den Awetí, diesmal mit Mitteln der Volkswagenstiftung. Schwerpunkt wird das Erheben von sprachlichen Daten (Tonband- und Videoaufnahmen) sein. Nach meiner Rückkehr aus dem Dorf werde ich mich im August bei meiner brasilianischen Partnerinstitution, dem Museu Goeldi in Belém, aufhalten. Nach Möglichkeit werde ich einen oder zwei „Informanten“ dorthin einladen, um mit ihnen konzentrierter an Transkriptionen und Übersetzungen zu arbeiten und gute Aufnahmen in einem speziellen Tonstudio zu machen. Bis zum Ende der Pilotphase soll ein für die drei brasilianischen Projekte analoger Korpus von Texten und Wortlisten in das Archiv eingespeist werden. Wenn das DOBES-Programm erfolgreich ist und das Awetí-Projekt in der Hauptphase fortgeführt werden sollte, könnte diese Sprache eine der ersten sein, die nach einem weltweit gültigen Standard dokumentiert ist, nicht zuletzt zum Nutzen zukünftiger Generationen der Awetí selbst.