FU Berlin

AKG Berlin - Pockenkranke des Jahres 1520 wurden von einer aztekischen Heilerin betreut (nach einer Darstellung bei Sahagún: Codex Florentino. Libro duodecimo).

 

Huey cocoliztli (aztekisch): das große Leiden

Zu den aus Europa eingeschleppten Seuchen, welche die Urbevölkerung Amerikas dezimierten

Prof. Dr. Ursula Thiemer-Sachse

Die Entdeckung Amerikas für Europa und die Eroberung des Doppelkontinents brachten auf beiden Seiten des Atlantiks Phänomene hervor, deren Erforschung für heutige Fragestellungen und Zukunftsentscheidungen von großer Bedeutung sein kann. Dazu zählen auch die Verbreitung von Krankheiten und die Folgen der Epidemien für die Bevölkerungsentwicklung sowohl in der Neuen als auch in der Alten Welt.

Innerhalb weniger als einem Jahrhundert wurden rund 90% der Ureinwohner Amerikas ausgerottet. Erst zu Ende des 20. Jahrhunderts haben ihre Nachfahren schätzungsweise wieder die Zahl erreicht, die die Bevölkerung Amerikas ausmachte, als Kolumbus 1492 in der Karibik landete. Es waren nicht nur die grausamen Unterdrückungsmethoden der spanischen Eroberer, die sich auf Kosten der Indianer bereicherten. Es waren nicht nur die Eroberungskriege und Strafexpeditionen gegen die sich wehrende einheimische Bevölkerung. Es waren vor allem die eingeschleppten Krankheiten, die für eine Reduzierung der Indigenen, für eine Dezimierung im wahrsten Sinne des Wortes sorgten. Bis 1514 hatte offenbar als erste Welle eine Grippe-Epidemie die Ureinwohner der Antillenwelt zu Hunderttausenden dahingerafft, die Bevölkerung der Insel Hispaniola (Haiti) fast ausgerottet.

Hinweise auf die verheerende Wirkung der Seuchen sind in Eroberungsberichten, Verwaltungsunterlagen und kirchlichen Dokumenten über missionarische Bemühungen aus dem 16. und frühen 17. Jahrhundert enthalten. Dabei müssen viele Augenzeugenberichte erst entschlüsselt werden. Oft werden Krankheitsbilder nur vage beschrieben, und gemeinhin wurde von Pest gesprochen. Da die Seuchen in Amerika zum Teil andere Symptome aufwiesen als die aus Europa bekannten und die Berichterstatter so gut wie keine medizinischen Kenntnisse hatten, sind die Informationen ungenau. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts verwandte man die Bezeichnungen für Masern und Pocken undifferenziert nebeneinander. So ist es schwierig, die einzelnen Krankheiten zu charakterisieren, die in Wellen mit mehrjährigen Intervallen über die indianische Bevölkerung hinweg brandeten und Abertausende von Opfern forderten.

Unter dem Blickwinkel neuester Erkenntnisse von Epidemologie und Genforschung gewinnen die aus der Eroberungsgeschichte Amerikas bekannten Daten und zu deutenden Fakten erneut an Interesse.
Kaum waren Kolumbus und die mit ihm von der ersten Entdeckungsreise zurückgekehrten Seeleute und Abenteurer 1493 in Spanien eingetroffen, wurde in Europa eine Seuche virulent, die damals unter anderem als Franzosenkrankheit (morbus gallicus) bezeichnet wurde: die Syphilis. Bis heute sind sich die Medizinhistoriker nicht einig, ob diese Krankheit unter den Ureinwohnern der Antillenwelt verbreitet war. Zumindest kam sie vor und traf die Europäer unvorbereitet.

Schlimmer jedoch schlugen die epidemisch, ja pandemisch auftretenden Seuchen zu, die von den Spaniern und den von ihnen nach Amerika versklavten Schwarzafrikanern übertragen wurden. Und die Ratten, die ihre Schiffe verließen, um die Neue Welt zu erobern, waren ihre ungeliebten Verbündeten. Die Ureinwohner des Doppelkontinents besaßen aufgrund ihrer jahrtausendelangen Isolierung vom Rest der Welt keine natürliche Immunität gegen die auf sie eindringenden Krankheitserreger. Sie hatten auch keine Erfahrungen, mit den neuartigen Krankheiten umzugehen. Die angestammten Behandlungsmethoden und Totenrituale konnten den Seuchen ebenso wenig beikommen, ja verbreiteten sie teilweise noch.

An Erkenntnissen über den Ursprung und eine effektive Bekämpfung der ansteckenden Krankheiten waren ihnen die Europäer keineswegs voraus. Glaubten letztere doch, dass für die Menschen ungünstige Sternkonstellationen für den Ausbruch und Verlauf von Seuchen verantwortlich wären. Auch war man überzeugt, eine Strafe Gottes für menschliche Unmoral darin zu erkennen.


(Guamán Poma de Ayala: Nueva Corónica y Buen Gorbierno, um 1610)Wenn Epidemien auftraten, pflegten die Bewohner Perus in vorkolumbischer Zeit sich auf Straßen und Plätzen zu versammeln und mit Geschrei, Trommeln und Flöten sowie Drohen mit Waffen zu versuchen, das Übel zu vertreiben.

Die amerikanischen Ureinwohner glaubten gleicherweise an Strafen ihrer Götter für menschliches Fehlverhalten. Sind dergleichen Vorstellungen auch kulturimmanent, so sind ihre Auswirkungen auf das Handeln der Menschen doch oft vergleichbar. Gebete und Opfer sollten die Götter versöhnen. Statt einer Isolierung der Kranken ging eine verstärkte Einbindung in die Gemeinschaft einher. Zu entsprechenden Ritualen kamen viele Menschen zusammen. Auch sollten beispielsweise rituelle Reinigungen in den traditionellen Schwitzbädern der Indianer oder gemeinsame Waschungen in den Flüssen die begangenen Sünden abspülen. Schmier- und Tröpfcheninfektionen hatten dadurch besonders günstige Bedingungen.
Für die amerikanischen Ureinwohner war das pandemische Auftreten der Seuchen zunächst nicht erkennbar mit dem Auftauchen der aggressiven bleichen Fremden verbunden. Denn die ersten Wellen, die über die Indianer hereinbrachen, erreichten sie oft Monate und sogar Jahre, bevor die Spanier selbst zu ihnen vordrangen. Einige markante Beispiele sind überliefert. Nicht immer ist der Weg der Ansteckung nachvollziehbar. Für die westmexikanischen Tarasken ist dies möglich. 1520 rafften die Pocken deren Herrscher, Oberpriester sowie viele Adlige und einfache Leute dahin. Die Spanier selbst drangen frühestens ein Jahr später bei ihnen ein.


AKG BerlinErste Landung des Kolumbus (Guanahani, 12. Okt. 1492) – Kupferstich von Theodor de Bry (1528-1598)

Wie wir aus spanischen Chroniken wissen, hatte ein Sklave der Narváez-Expedition, die von Hernán Cortés, dem Eroberer Mexikos, überwunden und vereinnahmt worden war, die Pocken in die aztekische Hauptstadt Tenochtitlan eingeschleppt. Die Azteken versuchten um die gleiche Zeit, die ihnen an sich verfeindeten Tarasken als Bündnispartner gegen die Eroberer zu gewinnen. Offenbar hatten ihre Gesandten mit diesem Ansinnen den westmexikanischen Indianern zugleich die Krankheit gebracht.


Guamán Poma de Ayala: Nueva Corónica y Buen Gobierno, um 1610In Nordperu wurden die Toten nach fünf Tagen bestattet, nachdem die Verwandten und Freunde den Toten in einem großen Ritual beweint hatten. Erst dann wusch man den Verstorbenen, kleidete ihn in seine besten Gewänder und trug ihn auf einer Sänfte zum Bestattungsturm.

Der aztekische Herrscher Motecuhzoma hatte 1519 versucht, die fremden Eindringlinge zurückzudrängen. Er wollte sie am Betreten seiner Hauptstadt Tenochtitlan hindern. Unter anderem schickte er den Spaniern seine Zauberer entgegen. Sie sollten den Fremden etwas anhexen, „auf dass sie entweder erkranken oder umkehren“. So heißt es in dem aztekischen Bericht über die spanische Eroberung, den der Mönch Bernardino de Sahagún nach Erzählungen indianischer Adliger aufschreiben ließ. Wir wissen, dass diese Zaubereien die Spanier keineswegs beeindruckten und von ihrem Vorhaben abbrachten. Sie waren nicht erkrankt, sondern in Tenochtitlan einmarschiert. Wegen des Widerstandes der aztekischen Krieger mussten sie in der sogenannten Noche triste (=„traurigen Nacht“) des 30. Juni 1520 die Stadt zeitweilig wieder räumen. Hatten die Spanier auch große Verluste erlitten, so war das Schicksal ihrer aztekischen Gegner umso grausamer. Die Pocken brachen aus. Bei den Berichterstattern von Sahagún gibt es eine bemerkenswert ausführliche Darstellung darüber. Diesen Text hat der Berliner Altamerikanist Eduard Seler zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmalig in eine europäische Sprache übertragen, ins Deutsche:

„Im neunundzwanzigsten Kapitel wird erzählt, wie die Pocken kamen, wodurch die Eingeborenen starben, die man den großen Ausschlag nennt, nachdem die Spanier Mexico verlassen hatten. Und ehe noch die Spanier sich gegen uns erhoben (uns angriffen), breitete sich eine große Krankheit aus, die Pocken. [...]
Einige waren wie mit einer Kruste überzogen, überall hin legte sich (der Ausschlag), auf das Gesicht, auf den Kopf, auf die Brust usw. Es war eine verderbliche Krankheit, viele starben daran, sie konnten nicht mehr gehen, lagen nur auf ihren Lagern, ihren Schlafstätten, sie konnten sich nicht bewegen, nicht rühren, nicht regen, sich nicht auf die Seite legen, nicht mit dem Gesicht nach unten legen, nicht auf den Rücken legen. Und wenn sie sich bewegten, schrien sie sehr.
Sehr verderblich (zerstörend) war der den ganzen Leib überdeckende Ausschlag. Viele Leute starben daran, und viele starben Hungers, ganz allgemein starben die Leute Hungers, denn niemand kümmerte sich mehr um die Leute (die Kranken), niemand gab sich mehr mit ihnen ab. Und einige befiel der Ausschlag nur an einzelnen Stellen (mit Pusteln) in weiten Abständen, machte sie nicht sehr leiden, auch starben nicht viele (von diesen) daran. Und bei vielen Menschen wurde das Gesicht verunstaltet, sie bekamen Spritzflecke im Gesicht, (oder) auf der Nase, einige verloren das eine Auge, erblindeten ganz. Diese Bläschenkrankheit dauerte gut sechzig Tage, sechzig Tageszeichen.
Als sie aufhörte, als sie nachließ, als (die Kranken) gesundeten, wieder zum Leben kamen, befiel die Pockenkrankheit Chalco. Und sie erlahmte damit sehr; erlahmte aber nicht vollständig.“

Aus dem Bericht wird deutlich, dass sich damals keine Spanier in der Stadt aufhielten. Prominentestes Opfer war Cuitlauac, der Nachfolger des von den Spaniern als Geisel genommenen Motecuhzoma. Krankheit und Tod bedeuteten, dass Cuitlauac nur wenige Tage den Widerstandskampf der Azteken hatte anführen können.


Guamán Poma de Ayala: Nueva Corónica y Buen Gobierno, um 1610Der mumifizierte Leichnam des Inka Huayna Capac wurde in einer Sänfte durch sein gesamtes Reich getragen, um ihn in der Hauptstadt Cusco beizusetzen.

Ein anderes prominentes Opfer dieser ersten oder einer weiteren Welle einer Pockenepidemie, die sich bis 1524 in den mittleren Andenraum hinein ausgebreitet hatte, war der Inka Huayna Capac. Im heutigen Ecuador, wo der Inka damals residierte, starben Hunderttausende. Unter ihnen befand sich auch der designierte Thronfolger. Das sollte rund zehn Jahre später wegen der Thronstreitigkeiten zwischen den beiden Inka Atahualpa und Huascar den Spaniern ihr Vordringen sehr erleichtern. Die Uneinigkeit hatte verheerende Folgen, und die Eroberung des Inkareiches unter Francisco Pizarro wurde nicht zuletzt dadurch ab 1533 möglich. Man nimmt an, dass diese erste Pockenepidemie rund die Hälfte der zentralandinen Bevölkerung ausrottete. Dazu trug bei, dass man den mumifizierten Leib von Huayna Capac in einem von vielen Menschen begleiteten Trauerzug weit nach Süden in die Inka-Hauptstadt Cusco trug, um ihn dort beizusetzen.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Bevölkerung der dicht besiedelten Gebiete der entwickelten Staaten in Mexiko und dem alten Peru den Seuchen in bedeutend größerem Umfang zum Opfer fiel als die verstreut lebenden Gruppen einfacher Bodenbauern, Sammler und Jäger in den Randzonen und in den Weiten von Regenwald und Pampa. Vor allem die Versorgung der Kranken, die fehlende Möglichkeit wie Erkenntnis, sie zu isolieren, und die Vernachlässigung der Landwirtschaft aufgrund fehlender Arbeitskräfte zogen als Folgeerscheinungen Hungersnot nach sich. Wenn die Seuchen vor allem Alte und Kinder unter drei Jahren dahinrafften, konnten sich die Menschen von solchen Schlägen schneller erholen. Kurz nach einer solchen Epidemie wurden mehr Kinder geboren, und an Arbeitskräften mangelte es nicht so sehr wie in dem Falle, in dem die Seuche vor allem Jugendliche tötete.

Aus den Beschreibungen der Krankheitsbilder und Hinweisen auf das Alter der Betroffenen, der daran Sterbenden wie der Überlebenden, lassen sich einige Schlüsse auf Übertragungswege, Inkubationszeiten und ähnliches ziehen. Neben den drei bereits genannten, immer wieder aufflammenden Seuchen Grippe, Masern und Pocken – letztere anscheinend in rund zehn Varianten auftretend – kann man Typhus, Mumps, Diphterie sowie Beulen- und Lungenpest erkennen.

Einschneidend war die Pockenepidemie in den Jahren 1519-1528. Ungefähr 35 Prozent der indianischen Urbevölkerung starben damals an dieser Seuche. Ein zweiter furchtbarer Abschnitt waren die Jahre 1576-1591, als Pocken, Masern und Typhus gleichzeitig auftraten. Wer eine Seuche überlebte, war oft so geschwächt, dass er der anderen erlag. Dieser Pandemie fielen fast 50 Prozent der Indianer zum Opfer.
Rund hundert Jahre nach dem ersten Zusammentreffen der Spanier mit den indianischen Ureinwohnern begannen diese Krankheiten endemisch zu werden. Einerseits haben die erfolgte starke Reduzierung der Bevölkerung des Doppelkontinents, andererseits die Prozesse biologischer Vermischung dafür gesorgt, dass die Sterblichkeitsrate sank, auch wenn immer erneut, aber meist regional begrenzt, Epidemien ausbrachen. Man muss sich überhaupt fragen, wie es möglich war, dass ungefähr ein Zehntel der einstigen indianischen Urbevölkerung überlebte und seinerseits einen entscheidenden biologischen und kulturellen Beitrag zur Mestizenbevölkerung Lateinamerikas leisten bzw. als indigene Gruppen bis in unsere Zeit weiterexistieren konnte.
Um 1630 war auch die Weltbevölkerung auf weniger als 12 Prozent zurückgegangen im Vergleich zu dem Zeitpunkt, als zu Ende des 15. Jahrhunderts die Menschen aus beiden Hemisphären aufeinander prallten. Die verbleibende Bevölkerung hatte inzwischen genügend Antikörper gebildet, Immunität erworben. Das sorgte für ein allgemeines Abflauen der Seuchen. Jedoch ist dies kein widerspruchsloser Prozess gewesen. Die Erfahrungen aus der Geschichte und die Erkenntnisse der Medizin sollten lehren, die Zeichen neuer Gefahren rechtzeitig zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken, damit die Menschen vor manchem großen Leiden bewahrt werden können – dem huey cocoliztli, wie die Azteken sagten.


Literaturhinweis

Cook, Noble David (2000): Epidemias y dinámica geográfica. In: F. Pease & F. Moya Pons (eds.): El primer contacto y la formación de nuevas sociedades. Vol. II der Historia General de América Latina. Paris: Ediciones UNESCO/Editorial Trotta, S. 301-317.

Gareis, Iris (1997): La enfermedad de los dioses: las epidemias del siglo XVI en el virreinato del Perú. Genf : Societé Suisse des Américanistes/Schweizerische Amerikanisten-Gesellschaft. Bulletin 61, S. 83-90.

Sahagún, Bernardino de (1927): Einige Kapitel aus dem Geschichtswerk des Fray Bernardino de Sahagun, aus dem Aztekischen übersetzt von Eduard Seler. Herausgegeben von Caecilie Seler-Sachs in Gemeinschaft mit Walter Lehmann und Walter Krickeberg. Strecker und Schröder, Stuttgart.