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Fotos: Ausserhofer

Depressionen im Alter

Interview mit Prof. Dr. Michael Linden

Alte Menschen leiden in gleichem Maße unter Depressionen wie junge Menschen. Sie erhalten jedoch wesentlich seltener eine adäquate medizinische Betreuung. Dies war eine Erkenntnis der Berliner Altersstudie (BASE) aus den neunziger Jahren. Prof. Dr. Michael Linden, Leiter der Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation am Klinikum Benjamin Franklin der Charité sowie der Abteilung Verhaltenstherapie und Psychosomatik an der BfA-Klinik Seehof, erzählt im Interview von der Problematik bei der Behandlung von Depressionen älterer Menschen. Als Mitglied im Graduiertenkolleg „Psychiatrie und Psychologie des Alterns“ war er an einer Folgestudie zur Berliner Altersstudie beteiligt, die nach den Gründen für die Unterbehandlung von Depressionen im Alter suchte.

fundiert: Sie haben eine Studie zum Thema Depression im Alter gemacht. Ist Depression bei alten Menschen eine ernst zu nehmende Erkrankung?

Linden: Ja, Depressionen sind bei alten Menschen sehr ernst zu nehmen, denn sie leiden genauso darunter wie junge Leute. Depressionen haben aber im Alter einen viel schlimmeren Effekt als bei jungen Leuten, weil sie unmittelbar die Selbstpflege des alten Menschen behindern, also Essen, Trinken und Bewegung. Wenn jemand depressiv wird und nicht mehr richtig isst, dann ist das bei einem jungen Menschen nicht so dramatisch, er verliert ein bisschen an Gewicht. Bei einem alten Menschen hat das aber sehr schnell sehr viel komplexere Konsequenzen. Zieht sich ein alter Mensch dann auch noch zurück, dann hat er blitzschnell überhaupt niemanden mehr, mit dem er Kontakt hat. Wir haben auch erkannt, dass alte Menschen mit Depressionen bis zu fünfzig Prozent mehr Medikamente für organische Leiden bekommen, was damit zusammenhängt, dass diejenigen, die viel klagen, auch viele Medikamente verschrieben bekommen. Wenn sich alte Menschen umbringen wollen, fackeln sie auch nicht lange – die machen es gleich richtig, was auch unter anderem daran liegt, dass sie wesentlich schneller sterben können. Eigentlich können sie sich schon umbringen, indem sie die Medikamente nehmen, die ihnen schon verschrieben wurden. Deshalb sind Depressionen im Alter durchaus ernst zu nehmende Erkrankungen.

fundiert: Können Depressionen bei älteren Menschen genauso behandelt werden wie bei jüngeren?

Linden: Es gibt ein paar Besonderheiten bei der Behandlung von Depressionen alter Menschen. Es gibt ein paar Antidepressiva, die man vielleicht nicht einsetzen sollte. Bei modernen Antidepressiva ist es eigentlich gar kein Problem mehr, wenn ältere Menschen so viele andere Medikamente bekommen. Eigentlich ist die Pharmakotherapie also kein Problem. Für die Psychotherapie gibt es leider nur wenige Studien. Die besagen aber, dass auch die Psychotherapie bei Alten sehr gut wirkt. Ich selber habe auch Höchstbetagte psychotherapeutisch behandelt und hatte dabei sogar den Eindruck, dass sie besser zu behandeln sind als Junge. Sie machen nicht so viel Aufhebens, reden nicht so viel drum rum und kommen schneller auf den Punkt, was wahrscheinlich daran liegt, dass sie einfach mehr Lebenserfahrung haben. Es besteht also überhaupt kein Grund, sich bei alten Menschen nicht auf eine psychotherapeutische Behandlung einzulassen.

fundiert: Die Therapie von Depressionen im Alter ist also genauso problemlos und Erfolg versprechend wie bei jungen Menschen. Sie haben aber herausgefunden, dass nur ein Bruchteil alter Menschen, die unter Depressionen leiden, überhaupt therapeutisch behandelt wird. Was haben Sie bei Ihrer Studie genau untersucht?

Linden: Angefangen hat alles mit der Berliner Altersstudie. Diese Studie erfasste den Altersbereich von 70 bis über 100 Jahren und war einzigartig in ihrer interdisziplinären Ausrichtung: Mehr als 50 Mediziner, Psychologen, Soziologen und Ökonomen trugen zu ihr bei und untersuchten die mehr als 500 Teilnehmer über fast 10 Jahre jeweils an fünf aufeinander folgenden Zeitpunkten. Dabei haben wir unter anderem die dramatische Unterbehandlung von Depressionen bei alten Menschen festgestellt. Nur gerade mal fünf Prozent aller Depressiven werden medizinisch behandelt. Depressive Erkrankungen bei jüngeren Menschen werden zwar auch nicht immer behandelt, aber immerhin haben wir dort eine Behandlungsrate von ungefähr dreißig Prozent.


Bei jungen Menschen werden wesentlich häufiger Depressionen diagnostiziert.

fundiert: Wie kommt es zu einem so großen Unterschied?

Linden: Genau diese Frage haben wir uns auch gestellt und damit den Doktoranden Guido Kurtz aus dem Graduierten-Kolleg „Potenziale im Alter“ beauftragt. Dieses Kolleg entstand ebenfalls als Folge der Berliner Altersstudie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung unter der Leitung von Prof. Paul Baltes und Prof. Hanfried Helmchen. Genauer formuliert heißt das, dass Guido Kurtz untersucht hat, wie sich die zurückhaltende Behandlung von alten, depressiven Menschen erklären lässt.

fundiert: Wie ist er bei der Untersuchung vorgegangen?

Linden: Zu Anfang hatten wir zwei Hypothesen: Erstens das negative Altersstereotyp der Ärzte. Das hieße in diesem Fall, dass die gesamte Maschine anläuft, wenn ein junger Mensch einem Arzt sagt, dass er nicht mehr leben will. Kommt hingegen ein Achtzigjähriger zum Arzt und sagt, dass er nicht mehr leben möchte, erwidert der vierzigjährige Arzt: „Das ist kein Grund zu behandeln“. Die andere Hypothese war: Die Ärzte erkennen Depressionen im Alter nicht, weil die Situation im Alter komplizierter ist. Denn wenn ein junger Mensch sagt, er fühle sich schlecht und könne sich nicht mehr konzentrieren, ist die Schlussfolgerung nahe liegend, dass eine Depression vorliegt. Sagt ein Achtzigjähriger, er fühle sich schlecht und könne sich nicht konzentrieren, dann muss man als Arzt erst mal grübeln, woran das liegen könnte.

fundiert: Wie sah die praktische Seite der Studie aus?

Linden: Wir haben 120 Ärzten eine Fallbeschreibung präsentiert und sie dann gebeten, uns zu sagen welche Diagnose sie bei einem solchen Patienten stellen und welche Therapie sie empfehlen würden, also Depression oder eine körperliche bzw. organische Erkrankung. Anschließend haben wir ihnen einen zweiten Fall gegeben. In beiden Fällen war der Informationsgehalt hundert Prozent identisch, das heißt die Symptome waren exakt die gleichen, nur ein wenig anders verpackt. Wir hatten diese identischen Fälle in eine kleine Story verpackt und der einzige Unterschied war das Alter: 39 Jahre und 81 Jahre. Folglich können alle Unterschiede in der Diagnose und Therapieempfehlung der Altersvariablen zugeschrieben werden.
Des Weiteren hat uns die Informationsverarbeitungskomplexität interessiert. Das heißt wir haben auf ein psychologisches Paradigma zurückgegriffen, das besagt, dass Entscheidungslatenzen umso länger sind, je komplexer die Informationsverarbeitungsprozesse sind. Also haben wir die Zeit gemessen, die Ärzte brauchen, um die Diagnose zu stellen und eine Therapieempfehlung abzugeben. Per Fragebogen haben wir außerdem das Altersstereotyp der Ärzte erfasst.

fundiert: Was sind die Ergebnisse der Untersuchung?

Linden: Wir haben drei Haupterkenntnisse gewonnen:
Ein dramatischer Unterschied der ärztlichen Diagnose und Therapieempfehlungen bei Alten und Jungen. Alte kriegen sehr viel weniger spezifische Behandlungen empfohlen als Junge, bei den Jungen läuft die große Maschine an, bei Alten ist man eher zurückhaltend. Dies bestätigen auch die Erkenntnisse der Berliner Altersstudie und anderer Studien. Alte werden generell weniger schnell behandelt als Junge. Es fand sich überhaupt kein Zusammenhang mit dem Altersstereotyp. Das heißt unsere These hat sich als falsch herausgestellt, nämlich dass Ärzte, die dem Alter gegenüber eher kritisch eingestellt sind, und Ärzte, die viel mit Alten zu tun haben und Alte daher eher mögen, erkennbar unterschiedlich diagnostizieren und therapieren.
Wir finden deutliche Unterschiede in der Zeit, die Ärzte für die Entscheidungsfindung bei Alten und bei Jungen brauchen. Bei Alten ist sie deutlich länger.

fundiert: Weshalb brauchen Ärzte bei alten Menschen so viel länger, um zu einer Entscheidung zu kommen?

Linden: Ärzte denken bei alten Menschen deutlich länger nach, denn es ist sehr viel komplizierter und sie brauchen dementsprechend länger, um zu einer Diagnose und Therapieempfehlung zu kommen. Die Sicherheit, mit der man eine bestimmte Diagnose bei Alten treffen kann, ist eben sehr viel geringer. Der Arzt betritt ein schlechter überschaubares, komplexeres Informationsfeld, denn es können auch andere Krankheiten wie Herz-Kreislaufbeschwerden, Gelenkbeschwerden oder organische Leiden vorliegen.

fundiert: Also verhalten sich die Ärzte eigentlich richtig. Doch was kann man tun, um die Unterbehandlung von depressiven alten Menschen zu vermindern?

Linden: In der Regel wird ein solches Problem ja mit einer neuen Leitlinie für Ärzte angegangen. Das heißt man macht die niedergelassenen Neurologen und Hausärzte auf das Problem aufmerksam. Dabei darf man allerdings nicht den Fehler begehen, der so oft in Leitlinien begangen wird. Man muss die Ärzte nicht über die Symptome und Behandlungstherapien von Depressionen aufklären. Denn dass sie diese kennen, zeigt ja die Tatsache, dass sie die Depressionen bei jungen Menschen sehr wohl erkannt haben. Stattdessen sollte man ihnen raten, ihre Wahrscheinlichkeiten zu verschieben.

fundiert: Was heißt das konkret?

Linden: Ärztliche Entscheidungen sind probabilistische Entscheidungen und Ärzte neigen dazu, dem klassischen Motto zu folgen: Nil nocere – nicht schaden. Denn bevor ein Arzt einen Handschlag macht, muss er überlegen, ob er dem Patienten damit nicht schaden könnte. Bei alten Menschen heißt das aber häufig, wenn man nicht schaden will, darf man fast nichts mehr tun. Die Komplikationen sind oft unüberschaubarer, denn ein alter Mensch bekommt in der Regel sowieso schon sechs Arzneimittel und nun soll noch ein siebtes dazukommen. Während ein junger Depressiver meist körperlich gesund ist und auch sonst keine Arzneimittel bekommt. Da ist es relativ ungefährlich, ein Antidepressivum zu verschreiben. Aber bei Alten ist das anders, dort müssen mögliche Wechselwirkungen beachtet werden. Deshalb neigen Ärzte dazu, im Zweifelsfalle eher die Finger davon zu lassen. Also würde ich, wenn ich eine Leitlinie schreiben würde, Ärzte darauf hinweisen, dass sie eine Tendenz zur Unterbehandlung haben. Weiterhin würde ich raten, einen anderen Algorithmus auszuprobieren, wenn sie im Zweifel sind, ob sie behandeln sollen – wie etwa: „Probier’s doch einfach mal!“ Ich bin mir sicher, dass eine solche minimale Änderung in der Entscheidungsheuristik einen Unterschied von fünf zu fünfzig Prozent ausmachen müsste.

fundiert: Werden die Erkenntnisse aus dieser Studie in eine neue Leitlinie zum Thema Depression einfließen?

Linden: Das bleibt natürlich zu hoffen. Allerdings denke ich, dass der Leitlinienweg, so wie er im Moment beschritten wird, unsinnig ist. Denn Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung werden permanent ignoriert. Zudem gehen die Autoren der Leitlinien immerzu davon aus, dass die praktizierenden Ärzte sich deshalb nicht an die Lehrbuchbehandlungen halten, weil sie vergessen haben, was drin steht. Das kommt daher, dass die Hochschullehrer, die Lehrbücher schreiben, ausschließlich stationär tätig sind. Ihr ganzer Erfahrungshintergrund basiert auf 0,5 Prozenz der Patienten. Sie schreiben die Leitlinien, die Lehrbücher und auch die kontrollierten Studien werden an Universitätskliniken durchgeführt und das wird gnadenlos übertragen, obwohl man das so nicht tun dürfte. So versteht ein Ordinarius der Orthopädie beispielsweise nichts von Rückenschmerz, einer der häufigsten orthopädischen Erkrankungen.

fundiert: Bis sich neue Erkenntnisse durchgesetzt haben, wird es wohl noch eine Weile dauern. Was können alte Menschen tun, die den Verdacht haben, dass sie an einer Depression leiden?

Linden: Sie können sich an einen niedergelassenen Nervenarzt wenden. Dieser kann sie dann behandeln oder an spezielle gerontopsychiatrische Einrichtungen verweisen. Natürlich kann auch der Hausarzt immer die erste Anlaufstelle sein.

Das Interview führte Isabel Pasch.
Der gesellschaftliche Wandel hat es erst ermöglicht, dass weibliche Sexualität im Alter überhaupt zur Kenntnis genommen wird. Das beinhaltet auch, mehr über sexuelle Entfaltungsmöglichkeiten älterer Frauen nachzudenken, beziehungsweise neue Wertmaßstäbe zu entwickeln. Ebenso wie gleichaltrige Männer, deren Falten und das Ergrauen des Haares eher als Zeichen der Reife gelten und die sich zuweilen jüngeren Partnerinnen zuwenden, dürften nun auch Frauen keinen gesellschaftlichen Sanktionen mehr unterliegen, wenn sie sich einen jüngeren Partner suchen. An den demographischen Gegebenheiten oder der Feminisierung der älteren Bevölkerung wird sich wohl kaum etwas ändern, es sei denn, die durchschnittliche Lebenserwartung des Mannes würde sich zukünftig verlängern.


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