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Die Insel Elephantine, im Fluss vor der Stadt Assuan gelegen, wird von den Tempelanlagen der alten Stadt beherrscht. Vor den Tempeln (rechts) waren die Nilometer angelegt
Alle Abbildungen: Seidlmayer

Die Vermessung des Nils im Alten Ägypten


von Stephan Seidlmayer

Ohne den Nil wäre Ägypten eine weite Wüste. Aus dem äthiopischen Hochland und dem Gebiet der äquatorialen Seen kommend, durchquert der Strom über mehr als 2.000 Kilometer den kontinentalen Wüstengürtel. Das Wasser des Nils macht die breite Schwemmland-Aue des ägyptischen Talabschnitts zu einer der fruchtbarsten und am dichtesten besiedelten Landschaften der Welt. Dies galt auch schon im Alten Ägypten. Die Forschung hat daher die ökonomische Rolle des Nils in pharaonischer Zeit und die sozio-politische Bedeutung der Kontrolle des Bewässerungssystems früh thematisiert.

Die Schönheit des Nils, wie ihn antike und mittelalterliche Schriften gepriesen haben, können heutige Ägyptenbesucher kaum mehr nachvollziehen. Seit der Hochdamm von Assuan in den 60er Jahren den Lauf des Stroms ganzjährig reguliert, sind die natürlichen Gezeiten des Nils außer Kraft gesetzt.

Frühe Berichte erzählen, wie im glühenden Sommer die Grünfärbung des Wassers die kommende Flut ankündigte. Nach der Sommersonnenwende hatte der Fluss längst seinen Tiefstand erreicht, aus den Sümpfen des Sudd am Weißen Nil waren die Algen herausgespült. Ende Juli schwoll der Strom schneller an – nun rot vom Schlamm, den der Nil aus dem Hochland Äthiopiens mitführte. Täglich steigend, trat der Fluss aus seinen Ufern. War das festgelegte Niveau erreicht, wurden die Dämme durchstochen und die Flut ergoss sich auf die Felder, bis das ganze Land ein gewaltiger See war. Dörfer und Städte schwammen wie Inseln in der Flut. Im ersten Septemberdrittel erreichte die Flut ihren Höhepunkt, durchtränkte die Felder mit Wasser und zog sich langsam wieder zurück. Auf den freigelegten Äckern wurde gesät und die Ernte reifte bis zum nächsten Sommer dank des Wassers, das der Boden aufgesogen hatte.

Seit 622 nach Christus liegen fast vollständige, seit 1896 detaillierte Messungen zum Stand des Nils vor.
Danach betrug die Differenz zwischen Flut und Niedrigwasser in Assuan, am Süden des ägyptischen Kernlands, rund acht, in Kairo um die sechs Meter. Von Jahr zu Jahr variierte das erreichte Niveau nur um etwa eineinhalb Meter. Aber das war schlimm genug. Zu wenig Wasser, wie im Jahr 1877, brachte ungenügende Ernte, Hungersnot und Ungezieferplage. Stieg der Nil zu hoch, wie 1874 und 1878, riss er ohne Gnade Deiche, Dörfer, Städte, Mensch und Tier mit sich fort.

Auch die Alten Ägypter haben den Nil deshalb vermessen. Eine große Tafel, die im Alten Reich die Annalen Jahr für Jahr seit der ersten Dynastie (etwa 3.000 vor Christus) verzeichnete, notierte bereits in jedem Jahresfeld der Tabelle unter den für das Jahr namensgebenden Ereignissen das Maximum der Nilflut. Dieses Dokument ist nur in Ausschnitten überliefert, trotzdem erhalten wir statistische Stichproben für rund 600 Jahre. Gleichzeitig lässt sich ein Absinken der Fluthöhen um rund einen Meter zu Anfang des dritten Jahrtausends nachweisen, ein Befund, der klimageschichtlicher Interpretation bedarf. Seit dem Beginn des pharaonischen Staates verfügten die Ägypter in ihren Archiven über eine langfristige Flutstatistik modernen Zuschnitts. Wie die Maße des Annalensteins genommen wurden, ist nicht dokumentiert. Aus späterer Zeit sind wir über diesen Punkt jedoch genau unterrichtet.


Nur in Fragmenten ist der Annalenstein erhalten, auf dem vom
Beginn der ägyptischen Geschichte bis etwa 2.400 vor Christus
Jahr für Jahr mit die herausragenden Ereignissen verzeichnet waren.
In einem eigenen Abschnitt unten in jedem Jahresfeld ist der Stand
der Nilflut notiert


Vor den Tempeln der alten Stadt Elephantine, im Uferbereich der Insel vor dem heutigen Assuan am ersten Katarakt, in dem die Alten Ägypter die Nilquelle vermuteten, sind zwei Nilometer oder Niloskope erhalten. Ihre bauliche Anlage reicht mindestens in das siebte Jahrhundert vor Christus zurück. Der Nilometer vor dem Tempel des Chnum, der als Wächter der Nilquelle galt, ist ein rechteckiges Becken, das durch einen gedeckten Zuflussschacht mit dem Nil verbunden ist; jener vor dem Satistempel ist als geschlossener Treppengang zum Fluss ausgebildet. In den Wänden der alten Nilometer finden sich durch beigeschriebene Zahlen nummerierte Messskalen, interessanterweise in zweifacher Eichung. Die hauptsächlich benutzte Skala hatte einen theoretischen Nullpunkt tief im Strombett. Der Nullpunkt der anderen Skala lag höher, sodass die Ablesung Wasserstände über einem idealisierten Felderniveau ergab. Datierte Höhenmarken an Nilometern und Quaianlagen belegen systematische, jährliche Erfassungen der Flutmaxima und dokumentieren die in alter Zeit erreichten Pegel.

Die Integration der primären Messwerte zu generalisierten Modellen ist ebenfalls nachweisbar. So nennt eine demotische Inschrift im Nilometer des Chnumtempels von Elephantine drei Kennwerte der Nilflut, einer „über 15 Ellen“, einer „unter 22 Ellen“ und „Mitte: 19 Ellen“ – was aber auch in der ägyptischen Arithmetik nicht ganz stimmt. Die beiden Grenzwerte dieses Intervalls müssen von großer Wichtigkeit gewesen sein, denn auch die Grundmaße des Nilometerbeckens entsprechen diesen Zahlenwerten und finden sich auch sonst an den Ritualanlagen Elephantines akzentuiert. Nur der höchste Wert lässt sich anhand der historischen Dokumentation identifizieren: Er ist „das Merkzeichen“ (griech. sêma), das feste Maß, nach dessen Erreichen die Nilflut auch im steuerlichen Sinne als vollgültig eingetreten galt.

Bedeutsam sind die beiden anderen Werte erst, wenn man sie in die Kurve des Flutanstiegs einträgt und dadurch ein interessanter Sachverhalt erkennbar wird: Der Anstieg der Nilflut durchläuft die Messpunkte in Halbmonatsintervallen und in dieser chronologischen Perspektive liegt das Maß von 19 Ellen tatsächlich mittig zwischen den beiden Eckwerten, da sich die Geschwindigkeit des Flutanstiegs verlangsamt. Das Zahlenschema dokumentiert also Eckpunkte eines chronologischen Verlaufsmodells der Flut.


Der Nilometer vor dem Statet-Tempel auf Elephantine führt
als langer Treppengang zum Fluss hinab. Auf seinen Wänden
sind Messskalen und Wasserstandsmarken eingraviert


Als dritter Eckpfeiler in der numerischen Erfassung der Nilflut ist noch ein geographisches Modell bezeugt. Dieses ist in Form einer Zahlentabelle auf dem Sockel der „Weißen Kapelle“ Sesostris‘ I. (etwa 1920 vor Christus) im Tempel von Karnak erhalten.

Diese Tabelle nennt zunächst für drei Orte die Pegel der Nilflut: Assuan im äußersten Süden, Per-Hapi bei Kairo, an der Nahtstelle von Ober- und Unterägypten, und Tell el-Balamun an der Delta-Küste bei Dimjat. Es folgen zwei weitere Zahlen, die den Flutstand über den Feldern angeben, einer für Oberägypten, einer für Unterägypten. Damit ist durch fünf Zahlen die Entwicklung der Nilflut über dem Land Ägypten beschrieben.

Wie wurden die Messungen von Jahr zu Jahr zu solchen synthetischen Modellen verdichtet? Die Zahlen selbst erweisen sich bei näherem Hinsehen als höchst merkwürdig. Alle idealen Fluthöhen der geographischen Tabelle sind mit der Zahl drei gebildet. Der Wert für Kairo etwa lautet zwölf Ellen, drei Handbreiten, drei Fingerbreiten.

Weiter fällt auf, dass manchmal Angaben bis auf ein Drittel Fingerbreiten (sechs Millimeter) gemacht werden. Das ist sonst nicht üblich und auch nicht realistisch, lässt sich der Pegel des Stromes doch gar nicht millimetergenau messen. Außerdem führt die Addition aller Idealmaße auf den glatten Wert von 50 Ellen. So sehr die Zahlen der numerischen Modelle auf empirischen Maßen fußen, so deutlich ist doch, dass sie im Lichte einer Theorie der Flut optimiert wurden. Die Modelle enthalten theoretisch „korrekte“ Werte, die naturgemäß von Jahr zu Jahr nur annähernd realisiert wurden.

Wie die Nilfluttheorie des zweiten und dritten Jahrtausends vor Christus genau formuliert war, ist nicht bekannt; aus späterer Zeit aber gibt es Angaben. Tatsächlich lässt sich die Textgeschichte der Nilfluttabelle der Weißen Kapelle durch mehr als zwei Jahrtausende bis zu den Schriften der klassischen Autoren verfolgen. Plutarch (erstes bis zweites Jahrhundert nach Christus) nennt für die ersten drei Werte der Tabelle modifizierte, aber ebenfalls idealisierte Zahlen: 28 Ellen in Elephantine, 14 Ellen bei Kairo, sieben Ellen am Deltarand und er liefert auch die Erklärung dazu. Mit dem Siebener-Einmaleins spiegeln sich die Phasen des Mondes in den Pegeln der Nilflut. Das Schwellen und Schwinden der Flut ist dem des Mondes analog. Der Vollmond nach der Sommersonnenwende galt als Auslöser der Nilflut und ihr Gang blieb von den Phasen des Mondes bestimmt. Auch das chronologische Modell fußte auf der Monatsbasis. Diese späte Theorie kann die Zahlen der alten Überlieferung natürlich nicht erklären, und inwieweit sie in alter Zeit galt, bleibt offen. In jedem Fall zeigt der Text Plutarchs beispielhaft, wie der Vorgang theoretischer Modelloptimierung vorzustellen ist.

Doch woher kamen der Nil und seine Fluten? Die Antike hat eine Reihe Theorien hervorgebracht, wonach die Nilflut von der Schneeschmelze herrührt, vom Nordwind aufgestaut wird oder wonach die Flut der Normalzustand sei und das Niedrigwasser dadurch entstehe, dass die Sonne zeitweise den Nil austrocknet. Auch die naturwissenschaftlich „richtige“ Erklärung, dass die Nilflut auf die Regenfälle im Quellgebiet des Nils zurückgeht, wurde in Betracht gezogen.

Im Tempel von Elephantine findet sich folgende Erklärung: Der Gott der Nilflut sitzt in einer Höhle in seinen „Quelllöchern“ im Bereich des Ersten Katarakts. Dort quillt die Flut aus dem Boden, in dessen Tiefe sie teilhat an der Wasserfülle des Ur-Ozeans. Gleichwohl kommt die Nilflut nicht aus sich selbst: Charakteristisch für das altägyptische Denken wird sie durch andere Götter gesteuert. Die Nilometer stehen in den Tempeln anderer Götter, an die sich der Pharao wendet, um eine hohe Flut zu erbitten. Nach siebenjähriger Hungersnot – wie es in einem Text aus der Zeit Ptolemaios’ V. heißt – habe König Djoser den Weisen Imhotep nach den Ursachen der Flut recherchieren lassen. Der Gelehrte kam nach ausgedehnten Bibliotheksstudien zu dem Schluss, dass der Gott Chnum, der Herr des Kataraktgebiets, über die Flut wacht und deshalb der richtige Adressat für königliche Gaben sei. Der motivische Anklang an die Josephsgeschichte des Alten Testaments ist offenkundig. Die späte Theologie der Tempel von Assuan vertrat die Ansicht, Satis, die Göttin von Elephantine, öffne durch einen Pfeilschuss die Quellen des Nils und löse sein Überfluten aus. Anukis, die Göttin der Kataraktinsel Sehel, hatte umgekehrt die Aufgabe, den Strom der Flut wieder „abzuschnüren“, damit der Fluss beizeiten in sein Bett zurückkehrt. Auch andere Götterkreise, wie der Mythos um Osiris, bilden theologische Rahmenkonstruktionen, die die Mechanik der Nilflut erklären. Die großen Götter treten hier gleichsam als soziale Adapter zwischen die Welt der Menschen und die Kräfte der Natur.

Natürlich wussten die Ägypter seit grauer Vorzeit, dass der Nil und seine Flut aus dem fernen Süden kommen. Zumindest den Expeditionsreisenden muss bekannt gewesen sein, dass es im Süden eine Zone sommerlicher Regenfälle gab. Eklatant wird diese Diskrepanz im Falle eines außergewöhnlichen Flutereignisses im sechsten Regierungsjahr des Königs Taharqo (685 vor Christus) Die Steleninschriften, die diesen hohen Nil rühmen, sprechen auch von Regenfällen, die über den Steppen des mittleren Niltals niedergingen. Manche Ägyptologen nehmen das Nebeneinander von Regen und Nilflut in diesem Text als einen Beleg dafür, dass den Alten Ägyptern die „wahre“ Ursache der Nilflut wohlbekannt gewesen sei. Dem widerspricht jedoch die Argumentationsstruktur des Textes: „Seine Majestät hatte seinen Vater Amun Re um eine Nilüberschwemmung gebeten ... und als nun die Zeit der Überschwemmung kam, stieg der Nil für lange Zeit um eine Elle täglich; er drang in die Berge Oberägyptens und überflutete die Hügel Unterägyptens bis das ganze Land ein Ozean war. Und es regnete sogar in Nubien, sodass die Berge glitzerten ...“ Ein kausaler Zusammenhang zwischen Regen und Flut wird also nicht hergestellt, die in unserem Sinn logische Reihenfolge sogar umgekehrt.

Die Ägypter dachten anders: Sie generalisierten den Begriff der Nilflut ausgehend vom ägyptischen Phänomen zur allen Ländern und Menschen notwendigen Versorgung mit Wasser. Deshalb hat Gott, so lesen wir in Texten der Amarnazeit, den nilfernen Ländern eine „Nilflut am Himmel“ geschaffen, die sich als Regen ergießt: „Alle fernen Länder ... du hast einen Nil an den Himmel gesetzt, dass er herabsteige zu ihnen.“ Der Regen ist danach nicht die Ursache der Nilflut, sondern ihre exzentrisch alternative Erscheinungsform. Ihr Reservoir ist der unterirdische wie der himmlische Ozean, ihre Ursache der steuernde Wille der Gottheit. Nicht das naturhistorische Kuriosum – warum ein Fluss im Spätsommer anschwillt, wo alle Flüsse im Frühling Hochwasser führen – stand im Mittelpunkt. Die Ägypter fragten, wie es eingerichtet ist, dass Ägypten und die übrigen Länder der Erde Wasser haben. Sie behandelten das naturhistorische Phänomen in seiner sozialen Relevanz und antworten konsequent in religiösen Kategorien.

Messung und Erklärung der Nilflut waren nie wertfrei. Der Blick auf das Naturereignis schwankte zwischen Hoffen und Bangen. Moderne, Mittelalter und Klassische Antike sind sich in einem dreiteiligen Bewertungsschema einig: Günstig ist ein Flutausfall nur innerhalb einer Variationsbreite von rund eineinhalb Metern. Fluten, die darüber oder darunter liegen, haben dagegen katastrophale Wirkung. Eigenartigerweise sind diese Tatsachen jedoch abhängig vom kulturellen Blick. Über die Nilflut aus dem sechsten Regierungsjahr des Königs Taharka gibt es weitere Informationen. So steht auf der Tribünenfront des großen Tempels von Karnak eine Serie von Flutmarken aus der Zeit zwischen 950 und 650 vor Christus. Hier ist auch der Maximalpegel des sechsten Jahres des Taharka notiert. Wir wissen daher exakt, dass diese Flut die höchste war, die unter diesen Inschriften verzeichnet ist und eine wahre Naturkatastrophe gewesen sein muss. Dennoch preisen fast alle Texte im Alten Ägypten die gewaltige Flut in lyrischen Tönen. Der Befund ist so auffallend, dass einige Forscher daraus schlossen, die hohe Flut sei in alter Zeit nicht zerstörerisch gewesen; obgleich der Nil die Dörfer, Städte, die Kanal- und Deichsysteme, das Vieh und die Menschen bedrohte.


Eine Tafel in der monumentalen Publikation der Königlich Preußischen
Expedition nach Ägypten (1842 bis 1845) zeigt die Stadt Assjut
während der Nilflut wie eine Insel in der weiten Wasserfläche


Tatsächlich finden sich in religiösen Inschriften Schilderungen über die zerstörerische Naturgewalt. In den religiösen Inschriften der Pyramiden droht der verstorbene König, dass die Gehöfte seiner Feinde dem hohen Nil anheimfallen werden. In den Sargtexten gibt es einen Spruch, mit dem sich der Tote selbst in die Nilflut verwandelt: „Folgt mir, Menschen! Preist mich, Götter! Ich bin als Hapi (der Gott der Flut) erschienen, den die Menschen lieben; ich habe die Schlangen aus ihren Löchern vertrieben ... es gibt keine Grenze für mein Gesicht, es gibt keinen, der meine Arme aufhält ... ich bin gekommen, indem ich die beiden Länder habe grünen lassen, indem ich auf die Hügel gestiegen bin und nicht abgewehrt werden kann. Ich werde nicht eingeschlossen in meiner Gestalt als Nilflut; ... es gibt keinen, der sich mir in den Weg stellt; ich habe die Hügel betreten und bin hoch über den beiden Ländern.“ Ein Zustand archaischer Macht also, in dem der Tod negiert ist.

Aus solchen Texten wird deutlich, warum sich die Ägypter dem dreiteiligen, symmetrischen Bewertungsschema verschlossen haben: In der Flut des Nils ist eine Gottheit anwesend. Ihr Ausbleiben ist Verzweiflung, ihr Kommen Segen, und in diesem zweigliedrigen Denkschema göttlicher Abkehr und Zuwendung ist kein Raum für ein Drittes. Im Mysterium der göttlichen Anwesenheit jedoch sind das Faszinierende und das Furcht einflößende untrennbar verwoben. Der Schrecken der gewaltigen Flut ist qualitativ anders als der ihres Ausbleibens, auch wenn das Ergebnis beide Male Tod und Jammer sind. Die Vermessung des Nils zeigt, mit welcher Systematik die Ägypter ihre Empirie betrieben, die Befunde zu Modellen und Theorien verdichtet haben. Dies ist einerseits so vertraut, dass die altägyptischen Flutdaten direkt in aktuelle Studien der historischen Hydrologie des Nils übernommen werden können. Andererseits wird aber die Andersartigkeit des altägyptischen Denkens deutlich. Das Alte Ägypten erklärt sich aus der Religion. Die lebenserhaltende Flut ist Teil göttlicher Fürsorge für die Welt und kann nur in der Relation zwischen Gesellschaft und Göttern verstanden werden. Religion zeigt sich damit als ein Rahmen, Natur, Gesellschaft und individuelles Schicksal zu einem Sinnganzen zu verbinden.

Glossar

Demotisch: Sprache und Schrift des Alten Ägypten, die seit dem 7. Jh. v. Chr. auf Dokumenten auftaucht und nach Herodot „demotisch“ („volkstümlich“) genannt wird. Sie löste die hieratische Schrift ab, die sich im Neuen Reich (ca. 1600 – 1000 v. Chr.) nicht mehr weiterentwickelte und zu einer Schriftform wurde, die nur noch den religiösen Papyri vorbehalten war, daher der Name „hieratisch“ („heilig“).

Katarakt: Stromschnelle, niedriger Wassersturz; insgesamt gibt es sechs Nilkatarakte. Den Katarakt von Assuan bezeichnet man als den „Ersten“, weil das egozentrische System der griechischen Geographen die Katarakte von sich ausgehend, also stromaufwärts, zählte.

Sargtexte: RTexte, die für die Toten im Jenseits bestimmt sind und im Mittleren Reich (ca. 2000 – 1600 v. Chr.) auf die „Wände“ der Särge geschrieben. Sie sollen den in der Unterwelt weilenden Toten eine Hilfe gegen Hunger und Durst sowie sonstige Nöte bieten.


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