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Alle Abbildungen: Bildarchiv des Instituts für Indische Philologie

Die Ganga

Zwischen Reinheit und Reinigung


von Angelika Malinar

Der Ganges ist der heilige Fluss der Hindus. An seinen Ufern liegen zahlreiche Wallfahrtsorte wie die heiligste Stätte des Hinduismus, Varanasi, eine der ältesten Städte der Welt. Alljährlich nehmen zehntausende von Pilgern ein Bad im Ganges, um sich von ihren Sünden zu befreien. An den Verbrennungsstätten des Ganges werden zahlreiche Tote verbrannt und ihre Asche in den heiligen Fluss geworfen. Neben der religiösen Bedeutung des Flusses birgt der Ganges aber seit Jahrtausenden für die Menschen durch Überschwemmungen und Abwasserprobleme oft tödliche Gefahren. In ihrem Artikel widmet sich Dr. Angelika Malinar der Ambivalenz des heiligen Flusses.

Als eine „Hölle angefüllt mit lauter guten Sachen“ zitierte der arabische Gelehrte Ibn Batuta Mitte des 14. Jahrhunderts in seinem Reisebericht einen Verwaltungsbeamten des Mogul-Hofes über das Gangesdelta. Ibn Batuta war durch das damalige Mogul-Reich und die Gangesebene bis hin nach Nordost-Indien gereist, wo sich das 600 Kilometer breite Delta des Ganges erstreckt. In seinem Bericht schildert er den üppigen vegetativen Reichtum, aber auch das anstrengende feucht-heiße Klima. Der Ausspruch des Hofbeamten symbolisiert das seit Jahrhunderten bestehende ambivalente Verhältnis der Menschen zum Fluss, der einerseits von lebensbedrohenden Versumpfungen, Überschwemmungen, Abwasserproblemen und Krankheitsepidemien markiert ist, und andererseits von der lebensnotwendigen Wasserzufuhr, von Fischreichtum und Handelsmöglichkeiten. Das gilt insbesondere für die Bewohner der Delta-Region, die mit den Millionenstädten Kalkutta und Dacca zu den am dichtesten besiedelten Zonen der Erde zählt. Diese Region im Dreiländereck von Nepal, Indien und Bangladesh kämpft seit langem mit einem immer virulenter werdenden Problem der Wasserversorgung. Außerdem ist das Gangesdelta durch den steigenden Meeresspiegel und heftige Monsunregen von wiederkehrenden Überschwemmungen bedroht. Am Gangesdelta zeigt sich die Kraft des Flusses noch heute am deutlichsten. Abgesehen von der hohen Fließgeschwindigkeit der Ganga nach der Schneeschmelze oder bei ihrem Austritt aus dem Himalaya in die Ebene bei Rishikesh beziehungsweise Haridvar fließt die Ganga jedoch eher gemächlich und mit einem tendenziell sinkenden Flusspegel dahin. Die relativ geringe Fließgeschwindigkeit, und damit auch die weitgehende Bedeutungslosigkeit des Flusses für die Binnenschifffahrt, verursacht ein Staudamm, dessen Errichtung den Anbruch der Moderne in dieser alten Kulturlandschaft signalisierte. Die britische Kolonialregierung ließ 1854 den „Upper Ganges Canal“ und einen Staudamm bei Haridvar bauen, um das Wasser der Schneeschmelze zur Bewässerung der umliegenden Gebiete zu nutzen. Wie bei anderen Projekten dieser Art zeigen sich die ökologischen Folgen vor allem seit dem Industrialisierungsschub in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die Bevölkerungsexplosion hat in Kombination mit industrieller Umweltverschmutzung ein mittlerweile bedrückendes Ausmaß angenommen. Ein Brennpunkt ist der Großraum um die Stadt Kanpur mit ihrer Lederindustrie. Aber auch die anderen Städte der Ganges-Ebene tragen zur kontinuierlichen Verschmutzung des Flusses mit über einer Milliarde Liter an Müll und Abwasser pro Tag bei.


Die Ganga als Göttin, etwa fünftes Jahrhundert
nach Christus, Ahicchatra

Seit fast 20 Jahren versuchen indische Behörden mit Hilfe des so genannten „Ganga Action Plan“ und anderer Projekte die Umweltverschmutzung einzugrenzen. Besonders intensiv werden die Probleme der Verschmutzung in der Stadt Varanasi diskutiert. Denn Varanasi ist einer der heiligsten Orte Indiens und seit Jahrhunderten Ziel der Pilgerfahrten gläubiger Hindus. Während manche Hindus dazu aufrufen, den heiligen und als Göttin verehrten Fluss vor weiterer Verschmutzung zu schützen, sind andere gläubige Hindus der Ansicht, dass die Ganga gar nicht verschmutzt werden könne, sondern immer rein bleibe und von einer ungebrochenen reinigenden und heilenden Kraft für die Menschen sei. Die Gläubigen gehen davon aus, dass der Fluss Schätze berge und ein amrta, ein Unsterblichkeitselixier, von dem man gar nicht genug trinken kann und in dem Pilger gar nicht oft genug baden können. Diese Spannung zwischen der religiösen Logik, wonach die Göttin Ganga stets rein ist, und dem wissenschaftlichen Befund ihrer Verschmutzung spiegelt sich auch in der Alltagssprache wider. Die Ganga ist pavitra, rituell rein, und sie ist zudem pavini, rituell reinigend, und verkörpert damit den Wert „rituelle Reinheit“, der im Hinduismus alle sozialen und religiösen Trans- und Interaktionen bestimmt. Deshalb kann sie von gandagi, von materiellem Schmutz, von Müll und Unrat nicht verunreinigt werden, denn das gehört in einen anderen lebensweltlichen Bereich und dementsprechend ruft das Wort Konnotationen und Assoziationen hervor, die vom Diskurs über „rituelle Reinheit“ streng getrennt sind. Das zeigt sich auch darin, dass man in den Debatten über dieses Thema mit dem englischen Begriff „pollution“ arbeitet, beziehungsweise dem sanskritisierenden Neologismus pradusan, der im Hindi für „Umweltverschmutzung“ verwendet werden kann. Der Verweis auf experimentell messbare Wasserqualität, mit dem Regierungsbehörden und Umweltschützer zum Handeln aufrufen, trifft hier auf ein grundsätzlich anderes Verständnis von „Wasser“, dessen Qualität sich eben nicht naturwissenschaftlich bestimmen lässt.

Trotz der unübersehbaren Präsenz der modernen Industriegesellschaft erscheint die religiöse, über Jahrtausende entfaltete Konnotation der Ganga als „heiliger Fluss“ ungebrochen. In welche religiösen Kontexte ist die Deutung der Ganga als Göttin anzusiedeln? Sakralgeographisch betrachtet gehört die Ganga zu einem System von sieben „heiligen Flüssen“, die den indischen Subkontinent durchziehen und die allesamt als Göttinnen verehrt werden. Flüsse werden in Indien generell als weiblich definiert und die beiden großen „männlichen Flüsse“, der Indus beziehungsweise der Brahmaputra, kommen im religiösen Diskurs kaum vor. Dieser verknüpft die Bezugsformen zum Fluss als Lebensspenderin und Quelle von Reichtum, Fülle und Gaben mit der kulturellen Evaluierung von Weiblichkeit. Diese Verknüpfung wird in Ritualen und Festen deutlich, in denen der Fluss wie eine Frau behandelt wird, wenn beispielsweise die Bevölkerung im September an einigen Orten die Flüsse mit Saris „bekleiden“, indem man sie mit Stoffen überspannt. Dazu gehört auch die weit verbreitete und schon in der klassischen Zeit belegte Vorstellung, dass Flüsse während des Monsuns menstruieren und man deshalb nicht in ihnen baden soll. Auch hier wird der Diskurs über „Reinheit“ berührt, denn die Menstruation macht Frauen generell „rituell unrein“, und das begründet in manchen hinduistischen Traditionen deren Ausschluss vom Priesteramt. Neben diesen direkt am oder im Wasser des Flusses praktizierten Ritualen werden Flussgöttinnen aber auch regulär in Tempeln und Schreinen verehrt als „Ganga Mata“, Mutter Ganga. Trotz ihrer Bedeutung zählt die Ganga jedoch nicht zu den hinduistischen „Groß-Göttern“, für die ein eigener Kult oder eine spezifische Theologie entwickelt wurden. Das zeigt sich in ihrer Verwendung an Tempeln für andere Gottheiten. So findet man Skulpturen der Ganga, zusammen mit dem anderen, die nordindische Ebene bis Allahabad durchquerenden Fluss, der Yamuna, rechts und links des Tempeleingangs.

Sie symbolisieren dort unter anderem Fülle und Reinheit sowie zwei in der Yoga-Praxis wichtige feinstoffliche Körperadern. Im Zentrum der religiösen Praktiken steht jedoch der direkte körperliche Kontakt mit dem Ganga-Wasser.

Deshalb entfaltet sich in der lebensweltlichen Praxis der Hindus die religiöse Bedeutung der Ganga weniger an den Tempeltüren, als am Fluss selbst. Hierbei wird die Flussgöttin nach Maßgabe der für den Hinduismus typischen Parameter für die Effizienz des Heiligen definiert, das heißt in Bezug auf spirituelle und körperliche Reinigung, die Heilung von Krankheiten und die Verwendung in Ritualen. Diese Qualitäten werden in einschlägigen literarischen Texten gepriesen, den so genannte mahatmya-s beziehungsweise stotra-s. Diese literarischen Gattungen dienen dazu, die Effizienz eines Ortes, Flusses oder auch eines Textes in Rückbezug auf seine mythische Ursprungsgeschichte zu erklären. In einem solchem, der Ganga gewidmetem mahatmya heißt es: „Die Ganga ist der beste aller Flüsse. Wenn man sich an sie erinnert, beseitigt sie jeglichen Kummer und befreit den, der an sie denkt, von allen Sünden; sie heilt jedes Leiden und jede Verletzung. Selbst einer, der mehrere Kilometer von der Ganga entfernt ist und mehrmals ihren Namen ausspricht, wird von allen Sünden befreit. Wie erst dann einer, der eine Sühnezeremonie im Wasser der Ganga vollzieht? Die Ganga ist die Amme für die gesamte Welt. Sie reinigt, wenn man in ihr badet oder ihr Wasser trinkt. Deshalb ist sie &Mac226;die Reinigende‘ (pavani).“ Besonders wichtig erscheint der Kontakt mit Ganga-Wasser bei Sühnezeremonien für sittliche Vergehen oder bei Verbrechen. Ebenso pflegen Pilger beim Wasser der Ganga einen Eid zu leisten. Dieser Eid ist auch gerichtskräftig, wie ein Fall aus dem Jahre 1820 zeigt: Während einer Gerichtsverhandlung weigerte sich ein Inder, auf die Ganga zu schwören, da er einer religiösen Gemeinschaft angehöre, welche die Heiligkeit des Flusses nicht anerkenne.


Asket in der Ganga

Auch heutzutage kann man Tag für Tag, bei Sonnenauf- und Untergang beobachten, wie Millionen Inder das Wasser der Ganga als Bestandteil ihrer rituellen Verrichtungen schlürfen und anschließend in Glasflaschen oder auch kleinen Messinggießkännchen abfüllen, um damit in ihrem Hausschrein die Götterstatuetten zu baden. Ganga-Wasser gehört auch zu den Trophäen und Geschenken, die man von einer Pilgerreise an einen der zahlreichen, sich an den Ufern der Ganga befindlichen heiligen Orte mit nach Hause bringen kann. Die dem Wasser zugeschriebene Kraft hat auch Fremde und Fremdherrscher nicht unbeeindruckt gelassen. So berichtet der Hofchronist Abul Fazl in seiner Chronik „Ain-i-Akbari“ für den Mogul-Herrscher Akbar (1605-1627) folgendes: „Seine Majestät nennt diese Lebensquelle das Wasser der Unsterblichkeit ... Zu Hause und auf Reisen trinkt er das Wasser der Ganga. An den Flussufern stationierte Vertrauenspersonen schicken das Wasser in versiegelten Gefäßen.“ Auch in einem musealen Kontext hat Ganga-Wasser inzwischen Einzug gehalten: In Kalkutta gibt es in einer der klösterlichen Institutionen (matha) des Hinduismus ein kleines Museum, das vom Gründer des Klosters Mitte des 20. Jahrhunderts eingerichtet wurde. Es beherbergt von ihm auf Pilgerreisen gesammeltes Zubehör für hinduistische Askese wie Gebetsketten, Asketenstöcke und kleine Flakons mit Gangeswasser aus verschiedenen heiligen Orten. Die lange Lagerungszeit des Wassers tut – so eine weit verbreitete Überzeugung – der Effektivität des Wassers keinen Abbruch. Denn es handelt sich hier eben nicht um Wasser als Element oder chemische Formel, sondern um ein göttliches Elixier, um Heilwasser.

Vor diesem Hintergrund ist es kaum überraschend, dass an der Ganga drei der sieben heiligsten, das heißt Erlösung gewährenden Pilgerorte (mokshapradayini) Indiens liegen: Haridvar, Prayag (Allahabad) und Varanasi (Benares). Sie sind so genannte tirtha-s, wörtlich Furte, und somit Stellen, an denen das „Übersetzen“ besonders leicht ist. Das Wort bezeichnet im übertragenen Sinn eine besonders bequeme Übergangsmöglichkeit zwischen den Welten und einen Ort, der besonders dafür geeignet ist, eine Verbindung zum Himmel und zu den Göttern aufzunehmen. Aber er dient auch als Furt in die andere Richtung, denn an einem tirtha steigen Götter und Göttinnen auf die Erde herab. Im Fall der tirthas an der Ganga kommt jedoch als steigerndes Moment hinzu, dass der Fluss selbst als die „irdische Manifestation“ der himmlischen Göttin Ganga angesehen wird. Nach der klassischen Kosmographie des Hinduismus bewegt sich die Ganga in einem Kreis, der sie vom Himmel auf die Erde, in den Ozean und in den Himmel führt. Diese sehr alte Vorstellung wird in den Texten des klassischen Hinduismus durch eine weitere Lokalität ergänzt: das Totenreich. Dieses befindet sich, nach Angabe einiger der ältesten Texte, im Mond. Im klassischen Hinduismus werden jedoch mehrere Himmels- und Höllenwelten unterschieden. Die Ganga ist somit auch ein Totenfluss, der die Toten in die Himmelswelten der Ahnen führt, indem sie die Asche der Toten reinigt und sie so für die Jenseitswelt präpariert. Eine solche Reinigung der sterblichen Überreste war auch – nach einem der beiden populären Mythen über den Ursprung der Ganga – der Anlass für ihre Herabkunft auf die Erde. Demnach wurden die 60.000 Söhne eines Königs von einem Seher, den sie beleidigt hatten, zu Asche verbrannt. Ihnen blieb jedoch der Eingang in die himmlische Ahnenwelt so lange verschlossen wie ihre Asche nicht durch das Wasser der Ganga gereinigt wurde. Die Ganga musste deshalb vom Himmel auf die Erde geholt werden, was jedoch aufgrund der Wucht des Stromes zum einem gefährlichen Aufprall geführt hätte. Deshalb erklärte sich der Gott Shiva bereit, diese Wucht zu dämpfen, indem er sie auf seinen Kopf stürzen ließ. Diese Szene ist auch ein beliebtes Motiv in der indischen Kunst.

Bis heute gehört die Reinigung der Totenasche zu den wichtigsten Funktionen der Ganga. Denn viele gläubige Hindus haben den Wunsch, am Ganges und vor allem in Varanasi zu sterben, um nach dem Tod ihre Asche der Ganga zu überlassen. Die Mythen und Preislieder über Varanasi verheißen denen, die hier sterben, den Beistand des Gottes Shiva und somit die Befreiung der Seele von einer weiteren Wiedergeburt. Am Ufer der Ganga existieren deshalb zahlreiche Leichenverbrennungsplätze. Der Leichnam wird auf einem Scheiterhaufen verbrannt, wobei die männlichen Hinterbliebenen die entsprechenden Riten vollziehen. Die Größe des Scheiterhaufens und die Qualität des Holzes richtet sich nach den finanziellen Möglichkeiten der Angehörigen. Reiche Familien lassen sogar Sandelholz verwenden. Nicht immer verbrennt der Körper ganz, weshalb auch unverbrannte Leichenteile und Tierkadaver den Fluss hinabtreiben. Während Umweltschützer vor dieser „Verschmutzung“ des Wassers warnen, vertreten religiöse Hindus die Ansicht, dass es reicht, Fleisch fressende Wasserschildkröten auszusetzen, die die Reinigungsarbeiten auf „biologischem“ Wege übernehmen sollten. Bis heute bleibt die Ganga also ein Fluss, der rein ist und reinigend, aber auch geschützt und gereinigt werden muss.

Literatur

Alley, Kelly D.: When Wastewater meets a sacred river. Vancouver, 2002

Darian, Steven G.: The Ganges in Myth and History. Honolulu, 1978

Feldhaus, Anne: Water and Womanhood. Religious Meanings of Rivers in Maharashtra. New York, 1995

Stietencron, Heirich v.: Ganga und Yamuna. Zur symbolische Bedeutung der Flussgöttinnen an indischen Tempeln. Wiesbaden, 1972


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